Dies ist der erste Teil einer vierteiligen Blogserie, in der wir die Ergebnisse und den Prozess von ANGI (Anorexia Nervosa Genetics Initiative) sowie unsere geplanten nächsten Schritte bei der Untersuchung der Genetik von Essstörungen erörtern.
Wir freuen uns, berichten zu können, dass die Arbeit der "Anorexia Nervosa Genetics Initiative" Früchte getragen hat! Unser Artikel "Genome-wide Association Study Identifies Eight Risk Loci and Implicates Metabo-Psychiatric Origins for Anorexia Nervosa" wurde am 15. Juli 2019 in der Fachzeitschrift Nature Genetics veröffentlicht. Soweit wir wissen, ist dies das erste Mal, dass eine empirische Arbeit über Essstörungen in dieser renommierten Fachzeitschrift veröffentlicht wurde. Unsere Ergebnisse sind faszinierend und ermutigen uns dazu, unsere Konzeption bezüglich Anorexia nervosa zu überdenken.
ANGI ist eine Initiative der Klarman Family Foundation. Unsere Arbeit begann im Januar 2013, an den vier ANGI-Standorten (University of North Carolina at Chapel Hill; Karolinska Institutet, Stockholm, Schweden; Aarhus University, Aarhus, Dänemark; und Berghofer Queensland Institute for Medical Research, mit Unterstützung der University of Otago in Christchurch, Neuseeland) sammelten wir DNA-Proben von 13 363 Personen, die irgendwann in ihrem Leben an Anorexia nervosa erkrankt waren, sowie von Kontrollpersonen, welche hinsichtlich ihrer Abstammung sowie geografischer Herkunft der Gruppe der Erkrankten entsprachen. In Teil 2 dieser Blogserie erfahren Sie mehr darüber, wie ANGI dank globaler Zusammenarbeit erfolgreich wurde!
Wie in einem früheren Beitrag auf “Exchanges” (Blog of the UNC Center of Excellence for Eating Disorders) beschrieben, ist ANGI als genomweite Assoziationsstudie (GWAS) konzipiert. GWAS gehören zu den explorativen Wissenschaften, d. h. man muss keine vorherigen Vermutungen darüber anstellen, wonach man im Genom sucht, sondern man lässt das Genom für sich selbst sprechen. Bei GWAS wird das gesamte Genom auf über eine Million genetischer Marker untersucht und die Genome von Tausenden, Zehntausenden und sogar Hunderttausenden von Fällen (bei ANGI sind das Menschen mit Anorexia nervosa) mit den Genomen von ebenso vielen Kontrollpersonen verglichen. Obwohl es ein gewaltiges Unterfangen ist, so große Stichproben von Personen zu sammeln, sind GWAS die bevorzugte Methode zur Untersuchung der genetischen Grundlagen psychiatrischer Störungen.
Zu den Ergebnissen: Wir haben alle ANGI-Proben mit anderen Proben kombiniert, welche in der Arbeitsgruppe für Essstörungen des Psychiatric Genomics Consortium verfügbar waren. Kurz gesagt, haben wir eine genomweite Assoziationsstudie (GWAS) durchgeführt, in der wir das gesamte Genom von 16 992 Personen mit Anorexia nervosa und 55 525 Kontrollpersonen aus 17 Ländern in den Vereinigten Staaten, Australasien und Europa verglichen haben.
Die erste bemerkenswerte Erkenntnis war, dass wir acht Regionen im Genom identifiziert haben, welche signifikant mit Anorexia nervosa assoziiert sind - und zwar auf den Chromosomen (nächstgelegenes Gen) 1 (PTB2), 2 (ASB3, ERLEC1), 3 (FOXP1 und NSUN3), 5 (CHD10), 10 (MGMT) und 11 (CADM1). Dies ist zwar aufregend, aber erst der Anfang, denn wir gehen davon aus, dass Hunderte von Genen mit dem Risiko für Anorexia nervosa in Verbindung gebracht werden können.
Es zeigt gleichzeitig auch, wie wichtig die Stichprobengröße für die Entdeckung von Genen ist, da unsere frühere Studie mit einer viel kleineren Stichprobe nur einen Bereich des Genoms identifizierte. Wenn wir die Fortschritte bei anderen psychiatrischen Erkrankungen betrachten, glauben wir, dass wir einen Wendepunkt erreicht haben, d. h., dass sich die Entdeckung von Genen ab diesem Zeitpunkt beschleunigen wird, wenn wir in Zukunft die Stichprobengröße erhöhen.
Die vielleicht revolutionärsten Ergebnisse dieser Studie liegen nicht in der Entdeckung von Genen an sich, sondern in dem Muster der genetischen Korrelationen, die wir mit anderen Eigenschaften und Störungen beobachtet haben. Genetische Korrelationen (d. h., die Überlappung von Genen, die die Ausprägung von zwei Merkmale beinflussen) zeigen Zusammenhänge zwischen Merkmalen auf. Aus unseren Ergebnissen lässt sich folgendes ableiten:
Dieses Korrelationsmuster hat uns zu der Schlussfolgerung geführt, dass Anorexia nervosa am besten als "metabopsychiatrische Störung" verstanden werden kann. Somit wird es zukünftig wichtig sein, sowohl metabolische als auch psychologische Risikofaktoren zu berücksichtigen, wenn neue Wege zur Behandlung dieser potenziell tödlichen Krankheit erforscht werden.
Für viele von uns ist dies eine Bestätigung dessen, was wir schon seit Jahrzehnten vermutet haben. Viele der verwirrenden Verhaltensweisen, welche mit Anorexia nervosa in Verbindung gebracht werden, wurden entweder als psychologische Phänomene oder als Nebenprodukte des Hungerns abgetan. Wenn wir eine magersüchtige Person mit sehr niedrigem Körpergewicht beim Joggen beobachten, gehen wir davon aus, dass sie von dem Wunsch getrieben wird, Gewicht zu verlieren. Auch wenn dies auf psychologischer Ebene geschieht, wissen wir heute, dass es auch einen genetischen Ursprung haben kann, da einige der Gene, welche das Risiko für Magersucht beeinflussen, auch mit hoher körperlicher Aktivität verbunden sind.
Wenn wir sehen, wie jemand nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auf tragische Weise an Gewicht verliert, schreiben wir dies in der Regel dem Drang nach Schlankheit oder sogar der Verleugnung der Krankheit zu. Dies mag zwar zutreffen, aber wir übersehen dabei möglicherweise die metabolische Komponente der Krankheit. Möglicherweise ist ein gestörter Stoffwechsel der Grund dafür, dass Menschen mit Anorexia nervosa überhaupt so viel Gewicht verlieren können, während es für die Mehrheit der Menschen auf der Welt so schwierig ist, Gewicht zu verlieren.
Wir haben spekuliert, dass sich Hungern und Gewichtsverlust für Menschen, die genetisch für Anorexia nervosa gefährdet sind, anders anfühlen. Während diese Erfahrungen für die meisten Menschen zutiefst unangenehm sind, geben viele Menschen mit Magersucht an, dass Hungern und geringes Gewicht mit weniger Ängsten verbunden sind und sie sich körperlich besser fühlen. Manche Patienten berichten sogar, dass sie sich schlechter fühlen, wenn sie an Gewicht zunehmen. Möglicherweise können wir durch ein besseres Verständnis der metabolischen Aspekte der Krankheit wirksamere Interventionen entwickeln, welche von Patienten besser akzeptiert werden und eine dauerhafte Wirkung haben.
Wir kennen bisher die konkreten Stoffwechselfaktoren noch nicht, aber unsere Ergebnisse ermutigen, sich mit dieser Frage zu befassen. Unsere Ergebnisse könnten ebenfalls erklären, wie wichtig eine angemessene Ernährung bei der Behandlung von Anorexia nervosa ist. Bei der familienbasierten Behandlung (FBT) von Jugendlichen mit Anorexie liegt der Schwerpunkt stark auf der Ernährung. Die stationäre Ernährungsumstellung ist oft dann am wenigsten wirksam, wenn wir gezwungen sind, die Patienten zu entlassen (in der Regel, weil die Versicherung die weitere Kostenübernahme ablehnt), bevor sie ein gesundes Gewicht erreicht haben. Einer der Gründe hierfür ist möglicherweise, dass wir ihrem Stoffwechsel keine Gelegenheit geben, sich nach längerer Fehlregulation wieder zu erholen.
Es wird oft gesagt, dass gute Wissenschaft mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Doch zumindest in diesem Fall sagen uns unsere Ergebnisse, welche Fragen wir als nächstes angehen sollten. Unsere Ergebnisse ermutigen uns nachdrücklich, unseren derzeitigen Schwerpunkt auf eine detailliertere Untersuchung der Stoffwechselfaktoren zu legen, in der Hoffnung, dass ein solcher Schwerpunkt die Erfolgsbilanz der Mediziner bei der Behandlung dieser tückischen Krankheit verbessern wird.
ANGI ist ein wichtiger Anfang, aber es ist nur ein Anfang. Ob Sie es glauben oder nicht, unsere Stichprobengröße ist immer noch recht klein. Unsere Kollegen, die sich mit Depressionen befassen, haben bereits über 250 000 Teilnehmer, und die Genetiker, welche sich mit Größe und Gewicht befassen, haben über 750 000! Aber wir wissen jetzt, wie wir vorgehen müssen, und haben einen Plan für den Erfolg. Bleiben Sie dran für Teil 2 dieser Serie, in dem die Studie im Detail beschrieben wird, für Teil 3 dieser Serie für ein Interview mit Professor Patrick Sullivan über die nächsten Schritte und für Teil 4 für persönliche Überlegungen und darüber, was die ANGI-Ergebnisse für Patienten, Familien und Kliniker heute bedeuten.
Vor allem möchten wir allen Menschen auf der ganzen Welt herzlich danken, die uns ihr Blut und ihre klinischen Daten zur Verfügung gestellt haben, um ANGI zu einem Erfolg zu machen. Wir haben gespürt, und wir hoffen, dass auch Sie das Gefühl haben, dass unser Bemühen um das Erreichen unserer wissenschaftlichen Ziele von einer Gemeinschaft getragen wird. Ohne Ihre Bereitschaft, mit uns zusammenzuarbeiten und Teil des ANGI-Teams zu werden, hätten wir dieses neue Verständnis von Anorexia nervosa niemals erreichen können. Vielen Dank, dass Sie uns auf dieser Entdeckungsreise begleitet haben.
15.07.2019 Cynthia Bulik, PhD, FAED
https://sph.unc.edu/adv_profile/cynthia-bulik/
https://uncexchanges.org/2019/07/15/anorexia-nervosa-genetics-initiative-angi-part-1-the-results/
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