Ausschnitte von Kapitels 10 des Buches "Anorexia and other eating disorders – how to help your child eat well and be well" von Eva Musby. Dieses Kapitel ist besonders wichtig, da Phase 2 der Behandlung oft nur unzureichend durchgeführt wird.
Wenn Essen und Gewichtszunahme gesichert sind, was ist dann noch zu tun? Wie führen wir unsere Kinder zu Normalität und Eigenständigkeit? Was ist zu viel, zu früh? Welche Sicherheitsvorkehrungen sind erforderlich, während wir experimentieren? Wir befassen uns mit den Themen Schule, Sport, Ferien, Wiedererlangung von "normalem" Essverhalten, Verhaltensweisen, Überzeugungen und Körperbild, Vorbereitung auf das Studium, Rückfallprävention und vollständige Genesung.
Bisher haben wir uns mit der ersten Phase der Behandlung befasst, in der wir die Verantwortung für Mahlzeiten und alle Verhaltensweisen übernehmen, welche die Gesundheit unseres Kindes beeinträchtigen. Letztlich sollen unsere Kinder altersgemäß unabhängig werden und frei von Essstörungsgedanken sein. Dies erfordert Üben, Experimentieren, Beobachten und Korrigieren. Sowohl Körper als auch Geist brauchen Zeit zur Heilung und Festigung.
Hat sich jemand das Bein gebrochenen, so kann und sollte er niemals sofort laufen, nachdem ihm der Gips abgenommen wurde. Genauso braucht es eine Zeit des Lernens, des Übens und der Festigung nach dem Refeeding. Hier sind einige Meilensteine auf dem Weg zur Genesung oder Gründe, warum dein Kind vielleicht nicht weiterkommt:
Allzu oft wird die Behandlung kurz nach der Wiederaufnahme des Essens oder der Gewichtszunahme beendet. Die Therapeuten entlassen das Kind aus der Betreuung, als gäbe es nichts mehr zu tun. Die Eltern ziehen sich pflichtbewusst zurück. Die Jugendlichen verlassen ihr Zuhause. Wenn es dann im Leben dieses Menschen bergab geht, nennt man das "Rückfall", obwohl die Behandlung in Wirklichkeit nie abgeschlossen wurde.
Du solltest auch jetzt weiterhin das Sagen haben. Jedoch experimentierst du nun damit, deinem Kind Unabhängigkeit in kleinen Schritten zurückzugeben. Stell eine Liste all der "normalen" Dinge zusammen, die durch die Krankheit aus der Spur geraten sind, und arbeite dich deinen Weg durch diese Liste. Du könntest dein Kind zum Beispiel bitten, zwischen zwei Gerichten zu wählen und sich so auf jenen Tag vorzubereiten, an dem im Restaurant wählt. Du könntest es seine Zwischenmahlzeiten selbst auswählen lassen. Wenn es zu einem Hauptgericht Erbsen gibt, könntest du dein Kind bitten, sich eine angemessene Portion davon zu nehmen, während du den Rest servierst. Du könntest dein Kind fragen, ob es Lust auf einen Nachschlag hat. Am Anfang wirst du dein Kind genau beobachten. Bewahre dir die Autorität, dein Kind anzuleiten und zu korrigieren. Fällt das Ergebnis negativ aus, wird so kein großer Schaden entstanden sein. Übernimm an dieser Stelle dann wieder Kontrolle und versuche es Tage oder Wochen später erneut. Gib deinem Kind nicht die Schuld, bewahre die Ruhe, es war nur ein Experiment.
Für manche Kinder ist es nötig, dass die Eltern in bestimmten Bereichen lange Zeit die Kontrolle behalten. Wenn sie noch jung sind, sollte kein Druck entstehen, den Prozess zu beschleunigen. Und in der Tat zeigen manche Kinder wenig Verlangen, selbst über Lebensmittel oder Mahlzeiten zu entscheiden. Lass dich eher von den Bedürfnissen, Fähigkeiten und dem emotionalen Alter deines Kindes leiten als von seinem kalendarischen Alter. Gleichzeitig gibt es am anderen Ende des Spektrums auch Kinder, die mehr Freiheiten verlangen, als sie sicher bewältigen können.
Geh besser nicht davon aus, dass dein Kind plötzlich mit jeder Situation klug umgehen kann. Geh auch nicht davon aus, dass es dir die Wahrheit sagen wird, wenn etwas misslingt. Schon frühzeitig sollte dein wissen, dass es seine Freiheit nicht missbrauchen kann, weil andere für dich mit aufpassen. Ich beschreibe hierzu zum Beispiel weiter unten, wie die Mahlzeiten in der Schule überwacht werden können. Später kannst du dann mehr Risiken eingehen (z. B. auswärtige Mahlzeiten mit Freunden erlauben) und gleichzeitig überwachen, dass sich Gewicht, Verhalten, Überzeugungen und Stimmung verbessern. Die Kontrolle durch dich sollte dabei so unauffällig und unaufdringlich sein, dass dein Kind stolz auf seine Autonomie und seine Fähigkeit sein kann, gut für sich selbst zu sorgen.
Diese gesamte Behandlungsphase einschließlich der Festigung des Erlernten beruht auf den Prinzipien der Exposition (Kapitel 9). Verhaltensweisen werden routiniert und sicher, wenn sie wiederholt werden und das Gehirn sich umprogrammiert.
Wenn dein Sohn oder deine Tochter bald bei dir auszieht, kannst du seine oder ihre Autonomieentwicklung beschleunigen, indem du dein Kind systematisch allem aussetzt, was es selbständig können muss. Wenn dein Kind bei diesen Schritten nicht mithalten kann, ist es letztendlich besser, wenn du es jetzt herausfindest und nicht erst, wenn dein Kind bereits ausgezogen ist. [...]
Vieles von dem, was ich beschrieben habe, fällt in die Phase II der FBT (Family-Based Treatment). Es ist schockierend, wie oft Kinder nach der Gewichtswiederherstellung aus der Behandlung entlassen werden, als gäbe es diese Phase überhaupt nicht.
Ein weiteres häufiges Problem besteht darin, dass Therapeuten die Phase II überstürzen, ohne die Eltern zu konsultieren, und zu früh oder zu schnell auf die Unabhängigkeit des Kindes drängen. Laut des FBT-Manuals sollten Therapeuten die Eltern jedoch rasch dazu motivieren, die Kontrolle über das Essen wieder zu übernehmen, sobald das Kind wieder eine Diät beginnt oder Gewicht verliert. Im Prinzip seid ihr also im selben Team. Manchmal hat ein Therapeut nicht das komplette Bild. Wenn er dich nicht konsultiert, sieht er vielleicht nur ein kluges Kind, das sich gut präsentiert und sich darüber beklagt, dass seine Eltern zu bevormundend sind. Ich empfehle, den Therapeuten allein aufzusuchen und die Verhaltensweisen deines Kindes zu schildern.
Was ist zu früh? Nach dem FBT-Manual kann Phase II nicht beginnen, bevor das Gewicht des Kindes ein Mindestmaß erreicht hat und die Eltern berichten, dass sie keine nennenswerten Probleme mit den Mahlzeiten mehr berichten und ein Gefühl der Erleichterung zeigen darüber, dass sie mit der Krankheit umgehen können. [...]
Die Schule spielt eine wichtige Rolle. Daher beschreibe ich im Folgenden die Zusammenarbeit zwischen Eltern, Ärzten und der Schule - und zwar von den ersten Tagen des Refeedings bis zur Genesung.
Oberste Priorität in der Anfangsphase der Behandlung haben Ernährung und Gesundheit. Wenn die Schule dem im Wege steht, sollte dein Kind auch nicht am Unterricht teilnehmen.
Allerdings möchten wir, dass unsere Kinder so bald wie möglich am normalen Leben teilnehmen und Freundschaften pflegen, was auch Teil der Behandlung ist. In der Regel erfordert dies wiederum, dass sich die Schule an der Teamarbeit beteiligt. [...]
Ich werde versuchen, mich hierzu kurz zu fassen. Ich befürchte nämlich , dass sich dies sonst zu einer Schimpftirade auswächst.
In den Schulen stehen in der Regel "Gesunde Ernährung" und Sport auf dem Lehrplan. Lebensmittel werden als "gesund" oder "Fast Food", "gut" oder "schlecht" bezeichnet. Man kann nie mager genug essen, man kann nie zu viel Sport treiben. Schlankheit ist heilig, während ein dicker Körper ein sicheres Zeichen für Faulheit und schlechte Gesundheit ist. Die Schulen werden (Anmerkung: in Großbritannien) von der Regierung gezwungen, die Kinder zu wiegen, und bekommen den Eindruck, dass ein niedriges Gewicht am besten ist. Eltern erhalten Briefe, in denen ihnen mitgeteilt wird, dass ihr Kind "fettleibig" sei und abnehmen solle, ausschließlich auf der Grundlage einer statistischen BMI-Berechnung. Kliniker und Eltern beklagen oft, dass Botschaften zur Gesundheitsförderung ein Hauptauslöser für die Essstörung eines Kindes seien.
In der Schule wurde meiner Tochter gesagt, dass Süßigkeiten schlecht seien (sie erhielt sie jedoch als Belohnung für gute Leistungen). Sie musste ein Ernährungstagebuch führen, Nährwertkennzeichnungen lesen, Nahrungsfetteinheiten zählen und sich ein "ekliges" Video über Fettabsaugung ansehen. Ich wette, du hast deine ganz eigenen Horrorgeschichten. [...]
Es ist wahrscheinlich, dass dein Kind nach Regeln essen muss - mindestens ein Jahr lang nachdem du ihm die Kontrolle übergeben hast . Während dieser Zeit sind weder seine Biologie noch sein Verstand in der Lage, intuitiv zu essen.
Wir wissen, dass es ein Jahr dauern kann, bis sich die Hormone, welche den Appetit regulieren, nach einer Diät zur Gewichtsreduzierung stabilisieren (ein physiologischer Grund, warum Diäten generell nicht auf Dauer funktionieren). Außerdem braucht der Verstand deines Kindes Zeit und Übung, um Hunger- und Sättigungssignale zu erkennen und ihnen zu vertrauen. Während die Essstörung wütete, wusste das Gehirn nur, dass es die Signale des Körpers bekämpfen müsse. Deshalb sind Regeln für ausgewogenes, regelmäßiges und ausreichendes Essen anfangs unerlässlich und ganz allmählich wirst du sehen, welche Regeln du getrost weglassen oder lockern kannst . Im Idealfall werden die Regeln zu groben Richtlinien, und in einigen Jahren wird dein Kind vielleicht erkennen, dass seine Intuition ein verlässlicher Freund ist. Überstürz es hierbei nicht. Behandel es wie eine Reihe von kleinen, risikoarmen Experimenten. Wenn etwas schief geht, greif auf das zurück, was funktioniert hat, und warte eine Weile, bevor du es erneut versuchst. [...]
Wahrscheinlich weißt du inzwischen sehr genau, wieviel besser es unseren Kindern geht, wenn wir ihnen helfen, ihre Ängste zu überwinden und sie dazu bringen, "normal" zu handeln. Wenn gesunde Verhaltensweisen immer und immer wieder wiederholt werden, verändern sich auch entsprechende Hirnstrukturen und diese Verhaltensweisen werden zur neuen Normalität
Es ist wie eine immer tiefer werdende Spur im Schnee. Gleichzeitig erhalten Körper und Gehirn die Botschaft, dass die Zeit des Hungers (oder der unregelmäßigen Ernährung) vorbei ist, so dass die normalen Funktionen (wie Hunger- und Sättigungsgefühle) wieder in Gang kommen können. All dies braucht Zeit. Es ist selten, dass eine Essstörung verschwindet, sobald das Gewicht wiederhergestellt wurde. [...]
Als meine Tochter im Alter von 12 Jahren entlassen wurde, sprachen wir über Rückfallprävention. Da sie nie wieder an Magersucht erkranken wollte, nahm sie diese Vorsichtsmaßnahmen problemlos an. [...]
Ist der Genesungsprozess deines Kindes so stabil, dass es sein Zuhause sicher verlassen kann? Ist die Behandlung abgeschlossen? Wie läuft die Vorbereitung auf die Unabhängigkeit? Ist es seit, sagen wir, guten sechs Monaten symptomfrei?
Wenn ja, ist es wahrscheinlich so weit, wie es jemals nur sein kann, und du kannst wirklich optimistisch sein. Wenn nicht, besteht die Gefahr, dass es bis Weihnachten wieder in deine Obhut muss und den Rest des Jahres verpasst. [...]
Originalfassung: https://anorexiafamily.com/anorexia-stages-recover
Originaltitel: The work towards fill recovery: school, exercise, appetite, eplapse prevention and the rest Phase 2)
This is a section from Chapter 10 of 'Anorexia and other eating disorders – how to help your child eat well and be well'
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin